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Sein erklärtes Ziel ist eine „Null-Promille-Uni“. Dafür setzt sich Jörg Graf als Suchtbeauftragter der Leipziger Universität ein. Wie wäre es, wenn in Zukunft zu Feierlichkeiten, beispielsweise bei einer morgendlichen Geburtstagsrunde, statt mit einem Gläschen Sekt mit einer Tasse Tee oder Kaffee angestoßen werden würde? Völlig ausreichend und ein bedeutsamer Schritt im Umgang mit Alkohol am Arbeitsplatz, findet Graf. Denn in unserer Gesellschaft ist gerade der Alkohol ein allgemein akzeptiertes Suchtmittel.
Laut Statistik sind zehn Prozent der Deutschen gefährdet, an einer Sucht zu erkranken, und fünf Prozent haben bereits ein Suchtproblem. Rechnet man das auf die 3.500 Angestellten unserer Universität herunter, wären dies – rein statistisch betrachtet – 175 Betroffene. Trotz dieser nicht geringen (theoretischen) Zahl klingelt sein Telefon eher selten.

Graf hob die Hand, als vor drei Jahren während einer Klausurtagung des Personalrats ein Suchtbeauftragter gesucht wurde. „Ich wollte etwas für die Mitarbeiter tun, wusste aber nicht, was mich erwartet“, erinnert sich der 49-Jährige. Danach ließ er sich in Frankfurt/Main in insgesamt sechs Wochen, verteilt auf 18 Monate, für sein neues Amt ausbilden, das mit einer Abschlussprüfung endete. Seit Januar 2019 ist er der „Ansprechpartner für Suchtfragen im Hochschulbereich der Universität Leipzig“. „Am meisten beeindruckt hat mich der dreitägige Besuch in einer Rehabilitationsklinik. Da hatte ich Kontakt zu Menschen, die schon seit Jahren im Teufelskreis der Sucht stecken. Das hatte für mich einen sehr wichtigen Lerneffekt“, sagt Graf, der im Hauptjob die Restaurierungswerkstatt in der Universitätsbibliothek (UB) leitet. Er begriff damals, dass Abhängigkeiten seit 1968 als Psychische Erkrankung anerkannt werden, welche gesellschaftlichen Gruppen daran erkranken, nämlich alle, und welcher Unterstützung es bedarf, beispielsweise den Griff zur Flasche zu unterbinden.

Kampf gegen Sucht ist enorme Herausforderung

Die vollständige Genesung von suchterkrankten Menschen ist jedoch äußerst herausfordernd, da zum einen das Konsumieren von Suchtmitteln als Bewältigungsstrategie gewählt wurde, für die ein Ersatz gebraucht wird, und zum anderen, da der Suchtdruck immer wieder komme und nur mit neu angelernten Mechanismen unterdrückt werden kann. So müssen süchtige Menschen jeden Tag bewusst gegen den Drang ankämpfen, wieder zum Suchtmittel zu greifen.

Auch die Zahlen, von denen Graf während seiner Ausbildung erfahren hat, prägten ihn nachhaltig: So dauert es im Durchschnitt 14 Jahre, bis eine Suchterkrankung entdeckt wird, weil die Betroffenen viele Wege finden, ihre vermeintliche Schwäche zu verbergen. Und: Hinter jedem suchtkranken Menschen stehen im Schnitt acht ebenfalls davon Betroffene – Angehörige, Kinder, Mitarbeiter oder Freunde. Graf ermuntert deshalb alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Universität, auf ihre Kollegen zu achten und diese anzusprechen, falls ihnen deren Verhalten neu und untypisch für den Betreffenden erscheint. So deuten zum Beispiel regelmäßiger Alkoholgeruch, häufige Fehlzeiten, neuerdings unzuverlässiges Bearbeiten der geforderten beruflichen Aufgaben oder ein aggressives Verhalten am Arbeitsplatz auf eine Suchtproblematik hin. Eine wichtige Rolle komme dabei den Vorgesetzten zu. Sie haben für alle Mitarbeiter eine Fürsorgepflicht und dürfen Verhalten von Beschäftigten, die suchtbedingt Problematiken aufzeigen, nicht ignorieren, sondern müssen diese ansprechen. Dies geschehe nicht zum Schutz des suchterkrankten Mitarbeiters, sondern auch aus Fürsorge für alle anderen Mitarbeiter, sagt Graf.

Wer den Betroffenen nicht selbst ansprechen möchte, kann ihm auch – ganz dezent – den Flyer des Suchtbeauftragten auf den Schreibtisch legen oder dessen Vorgesetzten auf das Problem aufmerksam machen. „Wichtig ist, nicht wegzuschauen, sondern anzusprechen. Das ist kein Verrat, sondern kann ein erster hilfreicher Schritt sein, dem Gegenüber die Möglichkeit zu bieten sich mit der eigenen Suchtproblematik auseinanderzusetzen“, stellt Graf klar.

Dienstvereinbarung Sucht erläutert das Prozedere

Im März 2019 wurde er in sein Amt bestellt. Seither, so berichtet er, sei kein direkt Betroffener zu ihm gekommen, dafür aber deren Vorgesetzte, danach erst der Betroffene selbst. „Ich merke, dass die Führungskräfte verunsichert sind und nicht wissen, wie sie mit diesem komplexen Thema umgehen sollen“, sagt er. Graf berichtete ihnen von dem Prozedere in solchen Fällen, wie es auch in der neuen Dienstvereinbarung Sucht unserer Universität steht:

Zunächst sollte ein Personalgespräch des Chefs oder der Chefin mit dem Mitarbeitenden geführt werden. Weiterführende Hilfe gibt es durch den Suchtbeauftragten, der während des gesamten Prozesses beratend und unterstützend zur Seite stehen kann. So ist es sinnvoll, wenn Beschäftigte nach dem Personalgespräch freiwillig den Kontakt zu Graf suchen. „Ich bin der Zwischenpart zur professionellen Suchtberatung. Das ist ein Angebot des Arbeitgebers, eine neutrale Stelle zur Aussprache und um Fragen nach Hilfsangeboten oder weiteren Abläufen zu Behandlungsmöglichkeiten aufzuzeigen“, sagt der Familienvater zwei erwachsener Kinder. Über die Inhalte der Gespräche wird selbstredend Stillschweigen bewahrt.

All diese Schritte – vom Gespräch mit dem Vorgesetzten und ihm als Suchtbeauftragten über andere Hilfsangebote bis hin zu den Konsequenzen, die ein permanentes Ignorieren der Hilfsangebote hat – zeigt die neue Dienstvereinbarung Sucht auf. Am Ende dieses vierstufigen Verfahrens, so sagt es die Verordnung, kann auch die Entlassung aus dem Universitätsdienst stehen.

In Universitätsbibliothek herrscht Alkoholverbot

Die Universitätsbibliothek, in der Jörg Graf seit 1990 tätig ist, geht in Sachen Null-Promille-Uni voran. Hier herrscht ein Alkoholverbot im gesamten Haus, auch bei „Betriebsfeiern“. Einzige Ausnahme sind Ausstellungseröffnungen. „Das zeigt, dass es geht“, betont der Suchtbeauftragte.

Für seine Arbeit in der Restaurierungswerkstatt, die er seit 2009 leitet, braucht der gelernte Buchbinder, der später noch eine Ausbildung zum Restaurator machte, eine ruhige Hand: Graf sorgt dafür, dass die alten Schätze der Biobliothek, wie beispielsweise Papyri, alte Handschriften und Drucke, erhalten bleiben. Dafür konserviert und restauriert er sie mit geübtem Blick und geschickten Fingern.

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